Verbunden werden auch die Schwachen mächtig.

Friedrich Schiller
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Das Orchester der Individualisten

Im Sommer 2019 ergab sich im Rahmen eines offenen Ateliers die Möglichkeit,  die Bewohner*innen einer psychosozialen 24-Stundenbetreuung, deren psychische Erkrankungen in den Bereichen Demenz und Depression, Schizophrenie oder Psychosen, Persönlichkeitsstörungen wie z.B. Borderline-Störungen, Angst- oder Zwangserkrankungen sowie Suchterkrankungen liegen, drei Monate lang kunsttherapeutisch zu begleiten.

Die Werkräume der Einrichtung wurden zuvor für Beschäftigungstherapie genutzt. Während die Kunsttherapie die Verbesserung der Lebensqualität und den individuellen Heilungsprozess in den Vordergrund stellt, zielt die Beschäftigungstherapie darauf ab, Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen. Für die Betroffenen bedeutet dies oftmals einfache Handgriffe einzustudieren und diese wiederkehrend auszuüben. Das Ziel dahinter sind einfache Produkte, die sich zum Selbstkostenpreis vermarkten lassen.

In Abgrenzung dazu verfolgt die Kunsttherapie das Ziel der Aktivierung und der Mobilisierung des Individuums. Ich lud die Bewohner*innen wieder und wieder zur Mitarbeit ein und motivierte sie verschiedene Materialien und Techniken, ohne konkrete Zielvorgabe, auszuprobieren. Dazu stellte ich beeinträchtigten Personen mein Hilfs-Ich zur Verfügung um auch ihnen ein aktives, schöpferisches Tun zu ermöglichen. In Folge kam es zu einer, für alle an der Pflege Beteiligten, überraschenden Mobilisierung der Klient*innen, die das enorme Potential der Kunsttherapie sichtbar machte. Mittels kunsttherapeutischer Methoden und Ansätze gelang es etwa 1/3 der Bewohner*innen für laufende Aktivitäten zu begeistern und sie an einem kreativen Schaffensvorgang zu beteiligen. Dadurch wurde ein gruppendynamischer Prozess angeregt, dessen Ergebnis sich in einer, von und durch die Bewohner*innen entwickelten, Materialmix-Wand-Collage im Ausmaß von 2,5 x 1,55 Metern präsentiert und nach einer Würdigungsfeier der beteiligten Künstler*innen einen besonderen Platz in der Einrichtung erhielt.

 

Aus der Distanz betrachtet, erinnerte mich dieses kreative Gruppengeschehen an ein Orchester, genauer: an ein „Orchester der Individualisten“. Es ist für mich eine stimmige Metapher für das, was sich auf der Grundlage eines kreativen Gestaltungsprozesses in dieser Gruppe entwickelt hat. Waren die Teilnehmenden zuvor jeweils mit sich und der eigenen Wahrnehmungswelt sehr beschäftigt und arbeiteten eher nebeneinander  – als Solisten eben -, wuchsen sie hier in der gemeinsamen Aufgabe zusammen und bezogen sich – wie auch Musiker*innen in einem Orchester – aufmerksam aufeinander. Im Zusammenspiel der Klient*innen entstand schließlich das Gemeinschaftswerk, zu dem die Einzelnen mit ihren je eigenen Möglichkeiten beigetragen haben. Der Prozess zeugt von der mobilisierenden und kommunikationsfördernden wie auch gemeinschaftsbildenden Wirkung des kreativen Tuns.

 

 

Hinweis und Quellenverzeichnis:
Den ausführlichen Artikel zu diesem kunsttherapeutischen Gruppenprojekt findest Du in der Fachzeitschrift Kunst & Therapie 2020/02 oder in unserem Downloadbereich.
Auer, Miriam: Das Orchester der Individualisten – Kunsttherapie als niederschwelliges Gruppenangebot für psychisch kranke Menschen. In: Kunst & Therapie. Zeitschrift für bildnerische Therapien 2020/2. Claus Richter Verlag.

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